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Beitrag vom 10.03.2010
Ute Schnur. Schwer behindert und Frau
Margit Glasow
Für Ute Schnur Grund genug, politisch tätig zu sein! Wird eine Frau mit schweren spastischen Lähmungen als Politikerin ernst genommen? Kann sie etwas bewegen? Zum Beispiel, dass in ihrem Bezirk...
...die Belange behinderter Menschen noch mehr berücksichtigt werden?
Wenn man Ute Schnur begegnet, ist man zunächst überrascht, vielleicht sogar etwas irritiert und verunsichert. Denn man trifft nicht jeden Tag eine Politikerin, die derart auffällt. Die Rollstuhlfahrerin nennt sich selbst einen Zappelphilipp, denn wenn sie redet, verkrampfen sich ihre Muskeln und die Arme und Beine schießen wild in irgendeine Richtung. Doch schnell wird klar: Diese Frau weiß, worüber sie spricht.
"Wenn ein Mensch, der selbst eine Behinderung hat, über die Probleme von Menschen mit Behinderung redet, dann hört man anders zu. Als Frau mit einer Behinderung muss man zeigen, dass man was im Kopf hat, dann wird man auch akzeptiert." Und lachend schiebt sie nach: "Ich habe einige Leute verblüfft, weil ich etwas gesagt habe statt meine Begleitperson." Dabei gehe es in der Bezirksverordnetenversammlung immer um sachliche Fragen, so Ute Schnur. "Ich denke, es kommt darauf an, wie ich auftrete. Wenn ich unsicher bin, glaube ich, nicht so schnell akzeptiert zu werden. Dann habe ich zeitweise schon das Gefühl, dass man mich bemitleidet."
Ute Schnur ist der festen Überzeugung, dass Menschen mit Behinderung in einem Parlament vertreten sein müssen. Deshalb engagiert sie sich seit 1996 in der Kommunalpolitik als Bezirksverordnete für die Probleme der BürgerInnen. Anfangs als Sympathisantin, seit 2002 als Mitglied der Grünen mischt sie sich zunächst im Prenzlauer Berg ein, dann in Pankow. "Die Grünen haben mir jahrelang die Möglichkeit gegeben, als Parteilose anzutreten. Ich bin der Meinung, dass diese Partei am besten die Interessen behinderter Menschen vertritt, jedenfalls im Bezirk Pankow."
1955 wird Ute Walter in Wolfen in der ehemaligen DDR mit einer Infantilen Cerebralparese geboren. Sie erlebt eine glückliche Kindheit in einer Künstlerfamilie. "Meine Eltern haben mich gleichberechtigt als eine von fünf Kindern erzogen. Von ihnen habe ich Selbstbewusstsein vermittelt bekommen, weil ich gemerkt habe, dass meine Meinung etwas zählt."
Nach dem Abitur studiert sie im Fernstudium an der Karl-Marx-Universität in Leipzig Englisch. Um die Sprache auch praktisch anzuwenden, besucht sie nebenbei die Volkshochschule Lichtenberg – eine Sonderlösung für sie. Die Treppen der Volkshochschule muss sie sich zwar hochtragen lassen, doch das schmälert die Akzeptanz der schwer betroffenen Spastikerin bei ihren KommilitonInnen nicht. "Man hat vorausgesetzt, dass ich etwas kann."
Nach dem Studium bekommt sie durch Zufall eine rollstuhlgerechte Wohnung in Berlin. Ein Jahr ist sie arbeitssuchend, bis sie von 1981 bis zur Wende am Institut für Getreideverarbeitung und Kaffee in Potsdam-Rehbrücke als Fachübersetzerin eine Stelle findet.
Ihr Privatleben gestaltet sich nicht ganz so einfach. "Ich habe immer gedacht, jemanden wie mich wird keiner nehmen. Mir kam es aber vor allem darauf an, mit einem Mann reden zu können."
1985 heiratet sie Stephan Schnur, den sie aus der Zeit in der Jungen Gemeinde Berlin Karow kennt. Von nun an versuchen sie, viele Dinge gemeinsam umzusetzen.
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© Uwe Klees |
In der Wendezeit wird sie arbeitslos. Seit dieser Zeit
engagiert sie sich vor allem in der Berliner Behindertenszene. Sie ist dabei, als die Behindertenvereinigung Prenzlauer Berg e. V. gegründet wird, um die Interessen der Menschen mit Behinderung außerparlamentarisch zu vertreten. Die Behindertenvereinigung mischt sich in die Politik ein, vor allem, wenn es um
Barrierefreiheit vor Ort geht. Bis 2005 leitet sie als verantwortliche Redakteurin die Berliner Behindertenzeitung. Heute ist Ute Schnur die
Vorsitzende der Behindertenvereinigung und vertritt deren Interessen im Behindertenbeirat.
In die Politik gerät sie eher zufällig. Sie ist öfter zu Gast im Sozialausschuss im Prenzlauer Berg und wird schließlich gefragt, ob sie mitmachen will. So ist sie seit 1996 Bezirksverordnete. Ihre Themen sind die
Belange behinderter Menschen, Migration und Gleichstellung, Schule und Sport. Sie arbeitet in verschiedenen Ausschüssen, unter anderem im Ausschuss für Gesundheit, Arbeit und Soziales und im Ausschuss für BürgerInnenbeteiligung, wo sie Eingaben der BürgerInnen bearbeitet. Dabei hat sie einiges erreicht. Als der Bezirk Pankow fusioniert, kann sie durchsetzen, dass ein
hauptamtlicher Behindertenbeauftragter eingesetzt wird, der dem Bürgermeister direkt unterstellt ist.
Und sie wird aktiv, als im letzten Jahr im Rahmen pauschaler Einsparvorgaben die
vorgesehenen Stellen der TherapeutInnen an den Sonderschulen gestrichen werden sollen. Das wäre für die Eltern von schwer- und schwerstmehrfachbehinderten Schülerinnen und Schülern zu einem großen Problem geworden. Sie hätten sich nach der Schule um die gesamte Organisation der entsprechenden Therapien für ihre Kinder kümmern müssen.
Im Juli 2009 hat das Bezirksamt Pankow nun für den Haushalt 2010/11 beschlossen,
dass die Finanzierung der medizinisch-therapeutischen Versorgung durch TherapeutInnen des Gesundheitsamtes gesichert bleibt.
Ute Schnur begegnet den Dingen in ihrem Umfeld sehr kritisch, vor allem, wenn es um die Barrierefreiheit in ihrem Bezirk geht. Als Beispiel nennt sie die
KulturBrauerei – das Zentrum der kulturellen Szene der Hauptstadt. Die Straßenzüge rund um diesen Brennpunkt mit den vielen Cafés, Bars und kleinen Läden laden zum Spaziergang ein. Doch das Problem ist: Hier gibt es
Kopfsteinpflaster der edelsten Form. Schnell gerät man mit den Rollstuhlrädern in die Zwischenräume, in denen oft Glas liegt, und so hat sie sich selbst hier schon eine
doppelte Reifenpanne geholt.
Es gibt in Pankow zwar schon viele taktile Platten für Blinde und abgesenkte Bordsteine für RollifahrerInnen und Gehbehinderte. Aber viele Dinge schleppen sich hin. Viele Gebäude aus der Gründerzeit sind
schwer zugänglich, das Rathaus Pankow hat ständig Probleme mit seinem Fahrstuhl. Die Lösung der bestehenden Probleme sieht Ute Schnur darin, den Behindertenbeirat und die Behindertenbeauftragten rechtzeitiger in die Planung und Durchführung von Bauvorhaben und anderen Projekten einzubeziehen. Das geschieht leider immer noch oft zu spät. Ute Schnur ist der Meinung, dass viele einfach nicht wissen,
wie wichtig die Berollbarkeit von öffentlichen Gebäuden, Straßen und Plätzen ist.Insgesamt jedoch ist die Grünen-Politikerin mit der Entwicklung in ihrem Bezirk zufrieden. Vieles hat sich ihrer Meinung nach getan, vieles ist auf dem Weg. Vor allem, so freut sie sich, sind die Leute
zunehmend sensibilisiert. Erst neulich hat sie wieder einen Heimwerkerladen mit einer Rampe davor entdeckt.
Und wie denkt sie darüber, sich im nächsten Jahr wieder zur Wahl aufstellen zu lassen?
"Ich bin noch am Grübeln", antwortet sie nachdenklich.
"Es gibt Leute, die wollen, dass ich wieder antrete. Aber man setzt auch ziemlich viel Lebenszeit ein, damit sich etwas bewegt. Man braucht schon einen langen Atem in der Politik - auf allen Gebieten. Wenn man das nicht weiß, gibt man schnell auf."Zur Autorin: Margit Glasow ist Redakteurin der Zeitschrift "Der Rehatreff", einem Magazin vorwiegend für behinderte Menschen, und schreibt insbesondere über Frauen mit einer Behinderung. Sie lebt selbst mit der Erkrankung Osteogenesis imperfecta (Glasknochen).
Weitere Informationen zur Autorin und der Zeitschrift "Der Rehatreff" finden Sie unter:www.margitglasow.dewww.rehatreff.deWeitere Informationen zur Politikerin Ute Schnur finden Sie unter:www.gruene-fraktion-pankow.deWeiterlesen auf AVIVA-Berlin: Angela Jansens Leben zwischen Langzeitbeatmung, Eyegaze und Theater von Margit Glasow.